Zur Person:

Kurt Reichmann wurde 1940 in Ehrings-hausen bei Wetzlar als Spross einer Bäckersfamilie geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Konditor, arbeitete aber nicht in diesem Beruf.
1965 kam er beim historischen Treffen der deutschen Liedermacher auf der Burg Waldeck im Hunsrück erstmals mit der Drehleier in Berührung. Das Instrument wurde seine lebenslange Leidenschaft.

1967 begann er, in seiner Frankfurter Werkstatt, Drehleiern zu bauen. Auf den Spuren des Instruments bereiste er viele Länder. 1973 gründete er das Drehleierfestival in Lißberg im Wetteraukreis, 1990 eröffnete er dort ein Musikinstrumentenmuseum. Er besitzt eine große Sammlung historischer Instrumente.

Kurt Reichmann: Der Vater der Drehleier

Der Frankfurter Kurt Reichmann widmete sein Leben dem Bau, der Erforschung und Verbreitung des Instruments. Jetzt denkt der 75-Jährige an den Ruhestand.

Der Himmel über dem Nordend verfinstert sich binnen Sekunden. Große Regentropfen zerplatzen auf dem buckligen Pflaster des Hinterhofs. Es hagelt dicke weiße Körner und ein böiger Wind rüttelt an den Jalousien. Wir fliehen in die Werkstatt. Augen und Nase sind verwirrt ob all der Eindrücke. Es riecht intensiv nach Holz und Leim. Überall Pinsel und Töpfe. Seltsame hölzerne Körper hängen und liegen herum, die entfernt Geigen ähneln. Es sind Drehleiern – die rätselhaften Instrumente, denen Kurt Reichmann sein Leben gewidmet hat.

Der Weißhaarige mit der auffälligen grünen Brille redet ohne Unterlass, gestikuliert, schimpft auch mal, brummt und knurrt. Der gebürtige Frankfurter ist ein Welt-Unikum: Seit Jahrzehnten baut er nicht nur Drehleiern, er reist unermüdlich durch ferne Länder auf der Spur seiner Lieblinge und ihrer Musik. „Ich komme gerade aus Bessarabien zurück“, berichtet er mit leuchtenden Augen. Und schwärmt: „Die Frauen dort sind wunderbar!“

Bessarabien, die geschichtsträchtige Landschaft Südosteuropas, die sich von Rumänien bis in die Ukraine zieht. „Vor 150 Jahren war diese Region ein musikalisches Zentrum“, sagt der 75-jährige wehmütig, heute überschatte der Krieg im Osten der Ukraine alles. „Man glaubt mal wieder, durch Krieg und Terror gewinnen zu können“, wie seit Jahrzehnten dort. Welch ein Irrtum. 40 000 der Ureinwohner Bessarabiens, der Kobzaren, hatte der sowjetische Diktator Stalin in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ermorden lassen. „Die Nazis brachten dann noch mal 10 000 um.“ Beim Russland-Feldzug der Wehrmacht von 1941 starb auch Reichmanns Vater, viel später, auf seinen Reisen, gelang es dem Sohn tatsächlich, sein Grab zu finden.

Lässt sich in diesem blutgetränkten Land über Musik sprechen, nach Instrumenten forschen, Konzerten lauschen? Aber ja, sagt Reichmann: „Dort wird viel Drehleier gespielt.“ Er traf sich mit den Menschen, „die die Urmusik dieser Region spielen“, hörte ihren Klängen zu, die der Klezmer-Musik ähneln.

Und schon improvisiert der Instrumentenbauer auch in seiner Werkstatt ein kleines Konzert. Nicht er gibt es, sondern seine Tochter Silke kommt vom Band, eine professionelle Drehleier-Spielerin, die mit einer Band auftritt. Melancholische, näselnde Melodien durchziehen den Raum, die wunderbar zum regnerischen Frühsommer draußen vor der Tür passen. Die Drehleier: eigentlich ein Streichinstrument, dessen Saiten von einem Rad in Schwingung versetzt werden, das wiederum von einer Kurbel in Bewegung gebracht wird. Klingt kompliziert und ist es auch.

Im Lahn-Dill-Kreis geboren, kam der 15-Jährige 1955 nach Frankfurt, als Spross einer Bäckersfamilie. Er absolvierte eine Ausbildung zum Konditor, doch den väterlichen Betrieb übernahm er nicht. „Ich hatte eine Ehefrau, die wollte nicht Verkäuferin spielen“, lacht er. Tatsächlich war es die Musik, die ihn magisch anzog. In einer Skiffle-Gruppe spielte er Banjo und Waschbrett, tauchte in die vibrierende Jazz-Szene der 60er Jahre in Frankfurt ein. Lernte die Brüder Mangelsdorff kennen, Albert, den Posaunisten, und Emil, der bis heute Saxophon spielt.

„Mit Albert bin ich auf den Feldberg gewandert, unser Lieblingsort war der Jazzkeller.“ Und dann kam das Jahr 1965. Auf der Burg Waldeck im Hunsrück traf sich die deutsche Liedermacher-Szene. Ein gewisser Reinhard Mey war dabei, aber auch Hans-Dieter Hüsch, Hannes Wader, Franz-Josef Degenhardt. Und der 25-jährige Kurt Reichmann, der mit offenen Augen und Ohren von Auftritt zu Auftritt wanderte.

Es war die Zeit der beginnenden Jugendrevolte, und bald gab es Streit auf Burg Waldeck: zwischen den Musikern, die sich dezidiert als politisch verstanden, und den anderen, bei denen die Musik im Vordergrund stand. „Auf der Burg Waldeck hab ich zum ersten Mal die Drehleier gehört.“ Reichmann schüttelt den Kopf. „Da hat es mich gepackt und nicht mehr losgelassen.“

Er begann, selbst Drehleier zu spielen. 1967 baute er in seiner Frankfurter Werkstatt das erste Instrument. Das erste von Tausenden. Zugleich wuchs eine Sammlung historischer Instrumente, „die ich auf Flohmärkten und in Kellern entdeckt habe“.

Wir klettern über eine steile Treppe ins Obergeschoss des Nordend-Hauses. Ein großer Kater springt empört von dem Stuhl, auf dem er geruht hat. Eine prachtvoll mit Intarsien verzierte Drehleier steht dort zwischen anderen Instrumenten: „Hab ich mal für das Arabisch-Islamische Institut gebaut.“ An den Wänden hängen dicht an dicht Gemälde mit historischen Darstellungen von Leier-Spielern. Sie stehen in idyllischen, sonnendurchglühten Landschaften, treten bei höfischen Empfängen auf. Eine Sehnsucht nach Idylle atmet auch die mit Teppichen ausgelegte Wohnung.

Durch Reichmann erlebte die Drehleier, das höfische Instrument des 18. Jahrhunderts, eine Renaissance weit über Deutschland hinaus. Schon 1978 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für sein Engagement. In seiner Forschungsarbeit hat er den Ursprung des Instruments auf das Jahr 830 datieren können. Bald reiste er quer durch Europa, nach Frankreich, Italien, Weißrussland und Russland auf der Spur seines Instruments und der Menschen, die es spielten. Er drang schließlich bis in die entlegenen Karpaten vor, zu den Huzulen, die dort in kleinen Bergdörfern leben. Das war im Jahre 2012.

„Ich war in der Welt der Erste, der sich wieder um die Leier gekümmert hat“, sagt er stolz. Bald war Reichmann alljährlich mit einem Stand auf der Frankfurter Musikmesse anzutreffen, sein Ruf verbreitete sich weltweit, viele Menschen ließen sich Leiern bauen. Aus speziellen Instrumenten-Hölzern entstehen die Instrumente, meistens aus Ahorn oder Fichte.

Auf der Musikmesse kam sogar der damalige Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs (FDP) an den Stand und ließ die Leier erklingen. Und als im Jahre 1986 der Regisseur Jean-Jacques Arnaud und der Produzent Bernd Eichinger in den Rheingau reisten, um im Kloster Eberbach mit ihrem Team den Spielfilm „Der Name der Rose“ zu drehen, da war die Familie Reichmann beim Einspielen der Filmmusik dabei. Der Vater, Tochter Silke und Sohn Jens.

Schon 1973 gründete Kurt Reichmann in Lißberg in der Wetterau ein alljährliches Drehleierfestival, das bis 2009 existierte. Am Ende fanden sich immer weniger Sponsoren, um das Musikereignis am Leben zu halten.

Stolz ist der Instrumentenbauer darauf, dass er sein 1990 eröffnetes Leier- und Musikinstrumenten-Museum in Lißberg bis heute betreiben kann. Reichmann führt den Besucher weiter durch seine weitläufige Wohnung, deutet hierhin und dorthin. „Wo eine freie Fläche ist, hänge ich ein Bild hin.“ Seine Leidenschaft ist auch ein Stück Völkerverständigung: Gerade ukrainische, russische und weiß-russische Musiker hat er nach Deutschland gebracht. Er hält noch immer Kontakt zu ihnen, in den Zeiten des Krieges ein schwieriges Unterfangen. Auch den Maidan, den umkämpften Freiheitsplatz im ukrainischen Kiew, hat er mehrfach besucht. Das Motto des Frankfurters: „Mit einer Kanone kann ich nichts verändern.“

Der mächtige graue Kater von vorhin hat sein Misstrauen erfolgreich überwunden und ist zurückgekehrt. Reichmann lässt sich auf einen der Polsterstühle im Wohnzimmer plumpsen. Sein 75. Geburtstag jetzt im April bildete für den Instrumentenbauer eine Zeitenwende. Er hört mehr und mehr seine alten Jazzplatten, in der Werkstatt steht er nicht mehr so oft. „Ich möchte aufhören, ich suche einen Nachfolger.“ Der Satz kommt unvermittelt. Denn die Arbeit ist anstrengend. „In meiner Werkstatt muss ich vorwiegend stehen.“ Wie lange er an einem Instrument baut, bleibt sein Geheimnis. „Ich zähle nie die Stunden“, behauptet der 75-jährige.

Pro Leier hat er im Durchschnitt vielleicht 2000 Euro verdient, doch davon konnte er mehr schlecht als recht leben. Auch nicht vom Unterricht im Drehleierspielen. So arbeitete er über Jahrzehnte auch als Grafikdesigner bei der Bundespost, bis er im Jahre 1998 in Ruhestand ging. Doch die Zeit, sie lässt sich nicht anhalten. Das Reisen fällt dem Musiker nicht mehr so leicht wie früher. Seinen 70. Geburtstag feierte er noch tagelang mit Kosakenfamilien in Moskau. Heute verlässt er das heimische Nordend nicht mehr so oft.

Draußen ist der Himmel wieder aufgerissen, binnen Minuten ist das Pflaster im Hof getrocknet. Durchs offene Fenster strömt frische, kühle Luft.

Von Claus-Jürgen Göpfert