Ein Artikel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.02.2013
geschrieben von: Claudia Schülke

Zitat des Artikels

Instrumentenbauer Kurt Reichmann Die alte Leier, immer wieder

25.02.2013  ·  Für ein Instrument hat er die Angst bezwungen und ist um die halbe Welt gereist. Die Geschichte eines Mannes, der erst einen Job hatte und dann eine Passion fand.
Von Claudia Schülke, Frankfurt
Höhenangst hatte er schon immer, drei Meter sind schon schwer. Aber als er 1979 vor dem „Portico de la Gloria“ der Wallfahrtskirche von Santiago de Compostela stand, konnte die Feuerleiter gar nicht hoch genug für ihn sein. Auf schät­zungsweise sieben Meter Höhe prangte eine steinerne Drehleier, ein Organistrum für zwei Spieler als Teil der Heiligenlegende. Und Kurt Reichmann, Instrumenten­bauer aus Frankfurt am Main, musste es tun. Er stieg empor, schluckte und fotografierte. Zu Hause in seiner Werkstatt empfand er das Instrument aus dem 12. Jahr­hundert nach.
Auf der Werkbank im Erdgeschoss seiner „Drehleier-Galerie“ an der Glauburgstraße im Frankfurter Nord­end liegt das Innenleben einer anderen Drehleier mit Geschichte. Hinter ihr war Reichmann in den ver­gangenen Jahren her. Er hatte sie in der musikwissenschaftlichen Dissertation („Die Drehleier“, 1973) von Marianne Bröcker entdeckt: eine Leier, deren Saiten nicht von einem Rad angerissen, sondern von einem endlosen Bogen zwischen zwei Zahnrädern angestrichen werden. Leonardo da Vinci hat sie entworfen. In der Sowjetunion wurde sie nachgebaut. Reichmann reiste nach St. Petersburg. „Aber da war sie nicht.“ Er suchte sie im Moskauer Zentralmuseum. Fehlanzeige. Schließlich fand er sie über Facebook. „Sie war dort, wo ich schon mehrfach gewesen war: in Kiew. Nur eben nicht im Museum, sondern im Büro des Direktors.“ Reichmann flog los, fotografierte und vermaß sie.

Die Leidenschaft des Entdeckers
Ihn treibt die Leidenschaft des Entdeckers. „Das Leiern und Bauen ist nicht mehr so mein Ding. Ich widme mich der Forschung“, sagt er. Im Klartext: Er sucht Leiern auf der ganzen Welt. Aber auch andere histo­rische Raritäten unter den Musikinstrumenten. In der Ukraine ist er gleich mehrfach fündig geworden: Ein Dudelsack aus Ziegenbocksleder müffelt in seinem Büro, aus dem CD-Player klingt das ätherische Zirpen der Bandura, einer ukrainischen Zither mit bis zu 45 Saiten. Daneben lehnt ihre Urform, eine alte Kobza, die schon in einer griechischen Chronik aus dem 6. Jahrhundert erwähnt ist und an den Fürstenhöfen Osteuropas so beliebt war wie die Laute im Westen. Vor allem die Kosaken griffen gern zur Bandura und formierten ganze Gilden aus Berufsmusikern, den Kobzaren.
Reichmann hat ihre Nachfahren besucht, nicht nur in Kiew. Er war auch bei dem karpatischen Bergvolk der Huzulen, die ihm den Dudelsack schenkten. Sie erzählten ihm von den blinden Kobzaren, die im 19. Jahr­hundert mit ihrem Instrument von Haus zu Haus zogen, Psalmen und epische Lieder vortrugen und als heilige Männer willkommen geheißen wurden. Stalin hat die Kobzaren gehasst, weil sich in ihrer Musik das ukrainische Nationalbewusstsein artikulierte. 1935 lud er Wandermusiker unter einem Vorwand nach Charkiw und ließ sie exekutieren. Heute dagegen schmückt ein blinder Kobzar mit seinem Instrument und einem Begleitjungen die Rückseite des 100-Hrywen-Scheins der ukrainischen Währung.

Der Zusammenklang der Drehleier
An der Grenze zwischen Polen und der Ukraine hat Reichmann dank der Kriegsgräberfürsorge auch das Grab seines Vaters gefunden, der dort im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Er selbst wurde 1940 als Spross einer Konditoren-Dynastie in Ehringshausen bei Wetzlar geboren. Nach der Volksschule in Wetzlar absol­vierte er eine Bäckerlehre in Siegen. Anfang der sechziger Jahre kam er nach Frankfurt; im Café Weiden­weber, das sich damals an der Zeil befand und heute an der Großen Friedberger liegt, hat er sich zum Konditor ausbilden zu lassen. Später sattelte er um, wurde Grafikdesigner und verdiente bis 1988 seinen Lebensunterhalt im Staatsdienst, bei der Bundespost.
Schon 1964 hatte er beim Festival Chanson Folklore International auf der Burg Waldeck zum ersten Mal eine Drehleier gehört. Fasziniert vom Zusammenklang von Melodie-Saiten, konstanten Bordunen und rhythmischer Schnarrsaite, begab er sich auf die Suche nach der Drehleier in Kunst und Literatur. Er begann die Instrumente zu fotografieren, zu vermessen und nachzuzeichnen. 1967 baute er seine erste Drehleier. Wie das geht, brachte er sich weitgehend selbst bei, mit dem Studium von Fachbüchern, ein bisschen hat er auch von anderen abgeschaut. Auf der Frankfurter Musikmesse von 1970 hatte er einen Stand und erst­mals ein Forum, um das alte Instrument wieder unter die Leute zu bringen. Drei Jahre später gründete er mit anderen Liebhabern ein Drehleier- und Dudelsackfestival, das seitdem jährlich an Himmelfahrt in Liß­berg in der Wetterau stattfindet. Nachdem ihm die Stadt Frankfurt für ein solches Vorhaben eine Abfuhr erteilt hatte, richtete er 1990 mit dem Lißberger Pfarrer Kurt Racky im ehemaligen Schulhaus neben der Kirche ein kleines Musikinstrumentenmuseum ein.

Reichmann ist in Museen kein Unbekannter
Dort sind nicht nur Radleiern zu sehen. Reichmann hat auch andere Instrumente nachge­baut. Zum Beispiel das „Nuermbergisch Geigenwerck“, ein Streichklavier nach den Kupferstichen aus dem Werk „Syntagma Musicum“ (1620) von Michael Praetorius, dem das Museum thematisch ge­widmet ist. „Das ist das ein­zige Geigenwerk der Welt, das auch klingt“, sagt Reichmann und fügt hinzu: „Ein zweites von mir steht in Lo­carno.“ Neben einer phallischen Tar­töld in Drachenform, die wie eine Flöte abgegriffen wird, ist auch eine Trumscheit zu besichtigen, ein Streichinstrument aus dem 17. Jahrhundert mit nur einer Schnarrsaite, die klingt wie eine Trompete. Ihren Ton durften auch Nichtadlige und Frauen hervorbringen, denen Blech­blasinstrumente sonst untersagt waren. Deshalb heißt die Trum­scheit auch „Nonnentrompete“.
In deutschen Museen ist Reichmann kein Unbekannter. Er hat Instrumente im Deutschen Museum München, im Landesmuseum Darmstadt, im Historischen Museum Frankfurt und im Musikmuseum Brüssel restauriert. Auch die Drehleier des Liedermachers Wolf Biermann hat er 1974 in Ost-Berlin repariert. Eine Spezialanfertigung aus seiner Werkstatt war 1976 in dem Film „Molière“ von Ariane Mnouchkine zu sehen. Die mittelalterliche Musik zu dem Streifen „Der Name der Rose“ wurde 1986 mit Reichmann gesampelt.

Leben und arbeiten gehen Hand in Hand
1995 eröffnete Reichmann seine Galerie: Ölgemälde, Stiche und Grafiken zum Thema Drehleier sind über mehrere Etagen in seinem Haus in Frankfurt verteilt. Eine verarmte, aber wunderhübsche Gräfin mit Dreh­leier, von verschiedenen Künstlerhänden gezeichnet und gemalt, blickt von allen Wänden und leitet über zu einem anderen Lieblingsthema des Instrumentenbauers: die Hurdy-Gurdy-Girls mit der Hurenleier. In Nordhessen war es Mitte des 19. Jahrhunderts üblich, die Töchter armer Familien in die kalifornischen Goldgräberstädte zu verkaufen. Vorher mussten sie die Radleier spielen lernen, damit sie ihr anrüchiges Gewerbe kaschieren konnten. Reichmann hat diese Problematik mit eigenen fotogafischen Variationen in die Gegenwart geholt und 1998 in der Frankfurter Weißfrauenkirche als Beitrag zum Paulskirchenjubiläum ausgestellt. Die Nationalversammlung von 1848 hatte sich dieses Missbrauchs angenommen, aber das Thema versickerte damals in den Ausschüssen.
Reichmann wohnt in seiner Galerie. Leben und arbeiten gehen Hand in Hand. Er kocht gerne, Wein hat er jahrelang an der eigenen Hauswand gezogen, die Trauben geerntet und gekel­tert. Jetzt recken sich nur noch vier Rebstöcke bis zum Balkon im ersten Stock. Darunter ducken sich in einem Gehege 35 Wachteln. „Für cholesterinfreie Eier“, sagt der vielseitige Auto­didakt. Im Sommer will er wieder zu einem Kultur­festival nach Kiew reisen: Er sehnt sich nach dem authentischen Umfeld seiner Lieblingsinstrumente.