Ein Artikel in der Zeitschrift FOLKER vom Februar 2000
geschrieben von Ulrich Joosten

Zitat des Artikels

Ein Leben für die Drehleier Kurt Reichmann

Zu Besuch im Lißberger Musikinstrumentenmuseum
An einem grauen, nebligen Januartag besuchen wir den Maître-Luthier Kurt Reichmann in seiner Instrumentenbauerwerkstatt in einem Hinterhaus in der Frankfurter Glauburgstraße. Der Meister erwartet uns bereits, und als erstes gibt es natürlich eine Führung durch die Werkstatt.
Er ist ein großartiger Geschichte- und Geschichtenerzähler, der es versteht, seine Zuhörer in einen Bann zu ziehen, dem man sich schwerlich entziehen kann. Der gelernte Grafiker und Instrumentenbauer ist ein wandelndes Musik- und Kunsthistoriklexikon, übersprudelnd vor Ideen, Konzepten, historischen Fakten und Fabuliertem, aber immer besessen von dem einen Generalthema, das ihn seit seiner ersten Begegnung mit diesem Instrument nicht wieder los­gelassen hat: der Drehleier. 60 Jahre wird er im kommenden Mai und strotzt vor Vitalität und Tatendrang. So kennt und liebt man ihn in der deutschen Bordunszene, als eine der schillerndsten und sicher polarisierendsten Per­sönlichkeiten. Der Mann hat eine Aufgabe, eine Vision, und der geht er unbe­irrbar nach.
Von Ulrich Joosten

Er war einer der ersten, der die Drehleier in Deutschland wiederbelebte, sie nachbaute, vom Staub der Jahrhunderte befreite und dem Instrument europa-, ja, weltweit zu neuem An­sehen verhalf. Zu diesem Zweck greift Reichmann auch schon mal zu drastischen Maß­nahmen: So ließ er einen Feuerwehrwagen auffahren, um über die Leiter das bekannte Relief eines Organistrums (frühe Form der Drehleier) über dem Portal der Wallfahrtskirche in Santiago de Compostela vermessen zu können. Er investierte fünf Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit, um das 1575 vom Nürnberger Sebaldskirchen-Kantor Hans Haiden ent­wickelte „Nürnbergisch Geigenwerk“ (von außen ein Cembalo, das im Innern fünf von einer Klaviertastatur bediente Drehleiern enthält) rekonstruieren und einer staunenden Weltöffent­lichkeit vorführen zu können. Vom besagten Organistrum über die Kastenleier „Symphonia“ des Mittelalters und die technisch hochkomplizierte Orgelleier bis zum Geigenwerk hat er so ziemlich alles nachgebaut und rekonstruiert, was es jemals in der Instrumentenfamilie der Drehleier gegeben hat. Sein jüngster Streich ist eine eigene Weiterentwicklung, eine Leier mit zwei gleichzeitig laufenden Rädern und zwei Klaviaturen (Tenor und Alt).
Wir verlassen Frankfurt, geleitet von einem kundigen „Reiseführer“, in Richtung Südosten, es geht in den Wetteraukreis, in die kleine Gemeinde Ortenberg-Lißberg, in der das alljährlich von Kurt Reichmann veranstaltete Drehleier- und Dudelsackfestival eine feste Heimstatt gefunden hat. Auch in diesem Jahr geht es wie immer am Himmelfahrts-Wochenende, vom 01. bis zum 04. Juni, über die Bühne (s. Anzeige in diesem Heft). In Lißberg hat auch das Musikinstrumentenmuseum eine Heimstatt gefunden, das am 8. April 1990 in einer ehe­maligen Schule nahe dem Festivalgelände eröffnet wurde. Einen Großteil seiner privaten Sammlung hat Kurt Reichmann hier ausgestellt, viele historische Stücke gilt es zu bewun­dern, für deren Erwerb er „viele Leiern bauen“ musste.
Für den Folker! gibt es eine Sonderführung. „Die Entwicklung der Musikinstrumente von Michael Praetorius bis heute“ ist das Leitthema der Ausstellung, und so bilden Vergröße­rungen der berühmten Spätrenaissance-Kupferstiche aus dessen „Syntagma Musicum“ die Vitrinenhintergründe, vor denen Originale oder Nachbauten der abgebildeten Instrumente zu bewundern sind. Über den Vitrinen sind Varianten und Sonderformen eines Instrumenten­typs nach geografischen und ethnologischen Gesichtspunkten zusammengefasst worden. Gleich am Eingang geht es los mit einem „Torbogen“, bestehend aus Blockflötenteilen der „Teutschen“ Blockflöte, deren „Griffweise im Auftrag des Führers entwickelt wurde, einfach, damit es etwas Deutsches daran gab“, erzählt Reichmann. Eigentlich sollten die Blockflöten­teile in einem Happening als Antwort auf die Bücherverbrennungen im Dritten Reich einge­äschert werden, aber „da die meisten dieser exotischen Hölzer schon von Natur aus viel Dioxin enthalten, wäre das eine Riesenschweinerei geworden. Wir ‚strafen‘ sie doch viel mehr damit, dass sie da oben hängen, oder? Die deutsche Griffweise wird bis heute noch gelehrt und es gibt auch irgendwelche Begründungen, warum die für Kinder gut sei – aber falsch ist die Griffweise, und selbst gute Spieler sagen, sie sei Blödsinn.“ In der ersten Vitrine finden wir dann die „richtigen“ Blockflötenfamilien von Garklein bis Bass, die von verschie­denen Herstellern zur Verfügung gestellt wurden. Wir flanieren an den Vitrinen vorbei und bewundern Aufschlagzungenistrumente, vom Chalumeaux über Klarinette bis zum Saxofon, und natürlich jede Menge Dudelsäcke, u.a. aus dem Mittelmeerraum die Zamfona-Instru­mente, die Doppelblatt-Dudelsäcke, darüber die Seidenstraßeninstrumente, den irischen und schottischen Dudelsack. Man sieht die Pommernfamilie, und immer wieder Dudelsäcke, u.a. auch ein Hümmelchen von Paul Beekhuizen, der als erster diese Instrumente wieder belebt hat. Es gibt Dulciane vom Sopran bis zu Sub-Bass. Und Tartölte, die Kurt Reichmann nach einem der letzten fünf erhaltenen Instrumente von 1596 nachgebaut hat: ein Blasinstrument mit Drachenkopf, das der Oboen-Familie zuzurechnen ist. „Das war ein Spaß von mir, ich wollte ja immer möglichst viele internationale Presseleute an meinem Stand auf der Musik­messe locken und habe deswegen die Tartölte wiederbelebt, das war aber eigentlich ein PR-Gag für die Leier.“

Original Artikel unter:

http://www.folker.de/200002/drehleier.htm